2009 März—Januar 2010 Sigmar Polke: Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, in der Hamburger Kunsthalle (Konzept und Umsetzung mit Dietmar Rübel und Dorothee Böhm). Die wachsende Ausstellung bestand aus drei Teilen:
Clique 13. März 2009 bis 28. Juni 2009
Pop 12. Juli 2009 bis 4. Oktober 2009
Politik 16. Oktober 2009 bis 17. Januar 2010
Die Ausstellung Sigmar Polke: Wir Kleinbürger! wurde vom Internationalen Kunstkritikerverband AICA (Deutsche Sektion) zur Ausstellung des Jahres 2009 gekürt.
Alle Installationsansichten © Olaf Pascheit, Hamburg
Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen (Clique)
13. März 2009 bis 17. Januar 2010
In der Galerie der Gegenwart, 2. OG
Teil 1: Clique, 13. März 2009 bis 28. Juni 2009
Teil 2: Pop, 12. Juli 2009 bis 4. Oktober 2009
Teil 3: Politik, 16. Oktober 2009 bis 17. Januar 2010
„Sigmar Polke. Das wußte jeder, das ist der Mann der 70er Jahre“
Martin Kippenberger
Im Mittelpunkt dieser Ausstellung steht eine vergessene, erst kürzlich wieder zusammengeführte Werkgruppe aus den Jahren 1974-1976: Wir Kleinbürger - Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Das zehnteilige Ensemble außergewöhnlich großformatiger Arbeiten auf Papier nimmt durch die einzigartige Vielfalt von Figuren, Spuren, Zeichen und Zitaten aus populären Bildwelten einen zentralen Stellenwert im Œuvre des Künstlers ein: Hier vermischen sich Anklänge an den so genannten Kapitalistischen Realismus der 1960er Jahre mit Vorläufern der chemischen und optischen Farbexperimente der 1980er sowie den seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt verhandelten politischen Themen. So entsteht ein Panorama von Kunst und Alltag der durch Hippie-Kultur, die neue Frauenbewegung und Terrorismus geprägten BRD. Ausgehend von der Kleinbürger-Serie gewährt die Ausstellung erstmals Einblick in die gesamte, bislang von der Kunstgeschichte vernachlässigte, künstlerische Produktion Sigmar Polkes in den 1970er Jahren. Film und Photographie ebenso wie Zeichnung und Malerei führen in Verbindung mit dokumentarischen Materialien und Bildvorlagen nicht nur die mediale Bandbreite seines Schaffens vor Augen, sondern zeigen einen völlig neuen, da lange unbeachteten Polke zwischen Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.
Viele dieser Werke entstanden auf einem niederrheinischen Bauernhof – dem Gaspelshof bei Willich –, wo immer wieder auch andere Künstler arbeiteten und Freunde zu Gast waren. Polke pflegte ebenso enge Kontakte zur Köln-Düsseldorfer wie zur Berner und Züricher Kunstszene. Er war außerdem Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist daher Polkes Kollaborationen gewidmet: In Schlüsselwerken von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern – Katharina Sieverding, Achim Duchow, Candida Höfer und vielen mehr – werden zeittypische Tendenzen zu gemeinsamem Arbeiten und Leben ebenso sichtbar, wie jeweils individuelle Auseinandersetzungen mit unter den Künstlerinnen und Künstlern kursierenden Themen der Zeit.
Ab März 2009 wird der Werkkomplex, der seinen Titel Hans Magnus Enzensbergers vieldiskutiertem Essay über die Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums aus dem Jahr 1976 verdankt, in der Hamburger Kunsthalle erstmals nach über dreißig Jahren wieder öffentlich gezeigt. Die ungewöhnlich lange Laufzeit von zehn Monaten soll im schnelllebigen Ausstellungsbetrieb ein Signal zur Entschleunigung setzen und eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Kleinbürger-Ensemble sowie den kulturhistorischen Kontexten der 1970er Jahre ermöglichen.
In drei aufeinander folgenden, sich ergänzenden Wechselausstellungen mit Akzenten auf „Clique“, „Pop“ und „Politik“ eröffnen sich immer wieder neue Zusammenhänge und unerwartete Perspektiven auf Polkes Œuvre, in welchen die Kleinbürger immer wieder neue Nachbarn bekommen.
Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen (Pop)
13. März 2009 bis 17. Januar 2010
In der Galerie der Gegenwart, 2. OG
Teil 1: Clique, 13. März 2009 bis 28. Juni 2009
Teil 2: Pop, 12. Juli 2009 bis 4. Oktober 2009
Teil 3: Politik, 16. Oktober 2009 bis 17. Januar 2010
Pop, der zweite von insgesamt drei aufeinander folgenden Teilen der Ausstellung Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen wird ab dem 12. Juli in der Hamburger Kunsthalle gezeigt. Die sich von Clique über Pop zu Politik ergänzenden Teile haben einen gemeinsamen Ausstellungs-Mittelpunkt: die bislang weithin unbekannte, zehnteilige Werkgruppe Wir Kleinbürger – Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Sie besteht aus großformatigen Arbeiten auf Papier, deren Präsentation in der Hamburger Kunsthalle erstmals nach mehr als 30 Jahren die Gelegenheit gibt, sich eingehend mit der Werkgruppe (1972-76) auseinanderzusetzen. Mit dem zweiten Teil Pop rückt der künstlerische Umgang mit Pop-Kulturen ins Zentrum der Ausstellung, die nun um die außergewöhnliche Werkgruppe Original + Fälschung bereichert wird. Das 38teilige Ensemble ist in einer aufwändigen Rekonstruktion der ersten Präsentation von 1973 zu sehen. Wie schon im ersten Teil Clique (der dem Entstehungsumfeld, dem künstlerischen Austausch innerhalb der Kunstszenen von Köln/Düsseldorf und der Schweiz sowie Kooperationen mit Freunden gewidmet war) ergänzen auch im zweiten Teil Pop Filme, Photographien, Zeichnungen und Gemälde in Verbindung mit dokumentarischen Materialien und Bildvorlagen die Werkgruppen und zeigen die mediale Bandbreite von Polkes Schaffen.
Wir Kleinbürger – Zeitgenossen und Zeitgenossinnen sowie Original + Fälschung – entstanden in Polkes Zeit auf einem niederrheinischen Bauernhof – stehen im Mittelpunkt der explosiven Kunstentwicklung der 1970er Jahre. Sie verbinden die Bilderwelten der Massenmedien mit Anspielungen auf die kunsthistorische Tradition. Die Hamburger Ausstellung bietet die einzigartige Möglichkeit einer Zusammenschau dieser beiden Werkblöcke. Im Zusammenspiel der beiden Arbeiten wird Polkes Vorreiterrolle für die figurative Malerei oder auch für die anarchischen Aktionen jüngerer Künstler-Generationen offensichtlich: Der Post-Pop von Polke & Co. beschränkt sich keineswegs auf Leinwandformate und museale Präsentationsformen sondern umfasst auch – teils politische – Aktionen, die nicht ausstellungstauglich sind. Anders als in der zu diesem Zeitpunkt längst kanonisierten Pop Art US-amerikanischer Prägung werden bei Polke & Co. die Bilder aus dem Alltag stärker von Verweisen auf internationale Gegenkulturen durchdrungen. Hier vermischen sich Populärkultur, Underground und politischer Aktivismus, wie z. B. zahlreiche Collage-, Film- oder Fotoarbeiten, etwa von Katharina Sieverding oder Klaus Mettig, zeigen.
Wir Kleinbürger – Zeitgenossen und Zeitgenossinnen
Die Kleinbürger-Werkgruppe markiert einen Wendepunkt im Œuvre des Künstlers: Hatte Polke in den 1960er Jahren die Lebenswelt der Wirtschaftswunderzeit ironisch analysiert, geht er hier zum Angriff auf gesellschaftliche Normen über. Er schafft ein Panorama der durch Hippie-Kultur, die neue Frauenbewegung und Terrorismus geprägten BRD der 1970er Jahre. Individuelle wie kollektive Träume und Ängste werden kritisch reflektiert, satirisch zugespitzt und humorvoll hinterfragt. Die kleinen und großen Fluchten aus bürgerlichen Welten – seien es Konsum, Exotismus, Sex oder Drogen – stehen zur Disposition. Kippbilder zwischen Männerfantasien und Feminismus, friedlichem Protest oder Waffengewalt loten Alternativen zum bürgerlichen Dasein aus.
Original + Fälschung
Die Werkgruppe Original + Fälschung besteht aus 24 so genannten Haupt- und 14 zugeordneten Kommentarbildern, für die Polke erstmals mit Achim Duchow zusammenarbeitete. Sie war seit den 1970er Jahren nur selten zu sehen – zuletzt in einer Ausstellung der Kunsthalle Tübingen 2007/08. Doch während der Zyklus dort unter den Bedingungen des White Cube gezeigt wurde, rekonstruiert die Inszenierung in der Hamburger Kunsthalle den anti-musealen Charakter der von Polke und Duchow mit Klaus Honnef eingerichteten Präsentation im Kunstverein Münster 1973. Wie damals verknüpft Original + Fälschung mit hunderten Spiegeln und farbigen Leuchtstoffröhren als raumgreifende Installation nun erneut eine vielschichtige Reflexion über Bilder mit dem Glamour der Club Culture von Discotheken wie dem legendären Düsseldorfer Creamcheese.
Ausgangspunkt des vielfältigen Bilderkosmos ist eine kuriose Sammlung von Zeichnungen und Zeitungsausschnitten. Sie diente den Künstlern als Fundus für Collagen, die sie den 24 Gemälden als Kommentarbilder beigaben. Einige der Hauptbilder beruhen auf einer Interpol-Liste, die gestohlene Gemälde alter Meister zeigt. Diesen erkennungsdienstlichen Bilderatlas haben sich die beiden Künstler vorsätzlich stümperhaft angeeignet. Außerdem sind die Variationen über Werke von Rembrandt, Rubens oder Toulouse-Lautrec in einen Bilderreigen aus Zirkusattraktionen, Politsatire, Machogehabe, Übersinnlichem und Spießertum eingegliedert. In Auseinandersetzung mit Kunstdiebstahl und -fälschung sowie den Mythen von künstlerischer Autorschaft und Authentizität werden in Original + Fälschung die Mechanismen des Kunstmarkts und Ideale bürgerlicher Kunstvorstellung attackiert.
Im Verlauf der Ausstellung werden mehr als 100 Werke und Werkgruppen aus internationalen Museums- und Privatsammlungen gezeigt. Sie machen ein vielschichtiges Aneignen, Wiederholen, Sampeln und Umdeuten von visuellem Material anschaulich. Polke & Co. bedienten sich der schrillen Bildsprache von Plattenhüllen, Comic-Heften oder internationaler Satire-Magazine und linker Zeitschriften. Zitate werden übereinander geschichtet, ergänzen sich oder treten miteinander in Konkurrenz. Polke hat diese Wirkung durch die Verwendung vorfabrizierter Dekorationsstoffe als Malgrund auf die Spitze getrieben. In den entstandenen Wimmel- und Vexierbildern erweitert der Künstler kollektive Bildreservoirs und analysiert und kommentiert sie zugleich. Harmlos wirkende Bildergalaxien verwandeln sich in Alpträume voller düsterer Comicfiguren und grotesker Spukgestalten. Hier wird greller Pop mit seiner morbiden Kehrseite konfrontiert. Gesteigert wird diese Gegenüberstellung durch das Zusammensetzen von Einzelwerken zu Bildpaaren. Einige von ihnen sind in der Ausstellung erstmals seit ihrer Entstehung wieder in der von Polke beabsichtigten Form zu sehen.
Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen (Politik)
13. März 2009 bis 17. Januar 2010
In der Galerie der Gegenwart, 2. OG
Teil 1: Clique, 13. März 2009 bis 28. Juni 2009
Teil 2: Pop, 12. Juli 2009 bis 4. Oktober 2009
Teil 3: Politik, 16. Oktober 2009 bis 17. Januar 2010
Das politische Interesse und Engagement Sigmar Polkes und seiner Künstlerfreunde steht im Mittelpunkt des dritten Teils Politik der Ausstellung Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Damit beginnt der letzte Teil des außergewöhnlichen Ausstellungsprojekts, das Ende September durch den internationalen Kunstkritiker-Verband AICA ausgezeichnet und zur „Ausstellung des Jahres“ gewählt wurde. Die Hamburger Kunsthalle zeigt ausgehend von Polkes zuvor weithin unbekannter Kleinbürger-Werkgruppe aus den Jahren 1972 bis 1976 in drei aufeinander folgenden, sich ergänzenden Ausstellungsteilen die vielfältigen, bislang wenig beachteten künstlerischen Strategien der 1970er Jahre.
Foto-, Film- und Dia-Arbeiten, Zeichnungen und Gemälde demonstrieren in Verbindung mit dokumentarischen Materialien und Bildvorlagen die experimentelle Bandbreite dieser produktiven Dekade. Über hundert Werke und Werkgruppen aus internationalen Museums- und Privatsammlungen stellen die kleinen und großen Fluchten aus bürgerlichen Welten, alte und neue gesellschaftliche Utopien zur Disposition. Politik wirft einen Blick auf die historische Kritik an den ökonomischen, medialen und politischen Bedingungen von Kunst und Gesellschaft. Der dritte und letzte Teil der Ausstellung fragt, wo in den 1970er Jahren, also in einem Jahrzehnt, in dem Utopien in gewaltsames Handeln umschlugen, die berühmte Grenze zwischen Kunst und Leben verlief. Dabei wird Sigmar Polkes kaum zu überschätzende Vorreiterrolle für die figurative Malerei und die subversiven Aktionen jüngerer Generationen sichtbar.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht weiterhin das Kleinbürger-Ensemble – zehn großformatige Arbeiten auf Papier, die einen Wendepunkt in Polkes Œuvre markieren: Hatte er in den Rasterbildern und dem Kapitalistischen Realismus der 1960er Jahre die Lebenswelt der Wirtschaftswunderzeit ironisch analysiert, geht er hier zum Angriff auf gesellschaftliche Normen über. Ein Panorama der von Hippietum, Proto-Punk, Frauenbewegung und Terrorismus geprägten Zeit verleiht der Hoffnung auf alternative Lebensmodelle Ausdruck. Mit der Präsentation einer zweiten vielteiligen Werkgruppe Polkes aus den 1970er Jahren, Original + Fälschung, ist erstmals die Möglichkeit einer Zusammenschau dieser beiden zentralen Werkblöcke geboten. Original + Fälschung wurde 1973 zum ersten Mal ausgestellt und nun auf besondere Weise präsentiert: In einer Wiederherstellung der damaligen Inszenierung mit hunderten Spiegeln und farbigen Leuchtstoffröhren.
Bereits in den beiden vorangegangenen Teilen, Clique, der sich dem künstlerischen Austausch innerhalb west-deutscher und auch internationaler Subkulturen widmete, und Pop, der die vielschichtigen Strategien des Adaptierens, Multiplizierens, Sampelns und Umdeutens populärer Medienwelten zeigte, wurde deutlich, dass Polke & Co. Populärkultur mit Underground und politischem Aktivismus für ihren Post-Pop verbinden. Auf Ausdrucksformen politischen Protests verweist etwa die Arbeitsweise, Vorlagen mit Hilfe von Schablonen zu vergrößern und auf Bildträger zu sprayen. Sigmar Polkes Kunst beschränkt sich dabei keineswegs auf Leinwandformate und museale Präsentationsformen. Zum vergänglichen Teil seiner ästhetischen Praxis gehören zum Beispiel Aktionen, wie die zirkusähnliche Gala Salto arte zur Unterstützung der linksradikalen und zeitweise verbotenen belgischen Zeitschrift POUR (écrire la liberté). Zahlreiche Arbeiten, etwa von Katharina Sieverding, Klaus Mettig, Astrid Heibach oder Achim Duchow zeigen die Begeisterung der Gruppe für Spielarten des Performativen jenseits von Kunstinstitutionen und bürgerlichen Normen.
Künstlerbücher in Skriptmanier, aus Boulevardblättern zusammengesetzte Bildgründe, politische Embleme der DDR und von Gewerkschaften oder großformatige Gemälde mit den Konterfeis von RAF-Terroristen karikieren Geschichtsbilder und entlarven politische Symboliken des Establishments in West und Ost. In einer Kooperation mit Klaus Staeck für den Bundeswahlkampf 1972 oder in Fotografien von New Yorker und Kölner Bettlern bezieht sich Sigmar Polke auf konkrete tagespolitische Geschehnisse und soziale Realitäten. Zudem bedienen sich Polke & Co. der ätzend provokanten Bildsprache internationaler Satire-Magazine, lassen in Zeiten der zweiten Frauenbewegung Geschlechterklischees aufeinanderprallen oder suchen nach alternativen Formen von Sexualität. Das Besondere dabei ist die Verquickung eindeutig politisierter Schlagbilder – wie dokumentarische Fotografien oder Wahlplakate – mit psychedelischen Strategien. So gelingt es den Künstlern eine kritisch-humorvolle Distanz zur Lebenswelt der BRD herzustellen und autoritär vorgetragene Ideologien als Peinlichkeit vorzuführen.