2019, 3. Juni, Flügelbau West, Universität Hamburg, Leihgabe der Sammlung Liebelt
1989 nahm Lawrence Weiner an einer Ausstellung der Hamburger XPO-Galerie zum Thema zweihundert Jahre Französische Revolution teil: Hier wird getanzt erkundete ein Motto von Henri Jean-Baptiste Grégoire. Der revolutionäre Politiker und Priester war 1789 unter anderem für die Abschaffung der Monarchie, der Privilegien von Adel und Klerus sowie der Sklaverei eingetreten und hatte danach gefragt, welche Gefühle die Herzen derer entflammten, die auf den Trümmern der Bastille feierten.1 Weiner steuerte eine wenige Jahre zuvor entstandene Zeichnung zu der Show bei, Enough push & pull to make a structure go to pieces.
Lawrence Weiner: Cat. #517, Enough push & pull to make a structure go to pieces, 1985, Zeichnung mit Tinten (blau, schwarz, rot) auf Papier, 45 x 75 cm, Sammlung Liebelt, Hamburg © Lawrence Weiner, Foto: Olaf Pascheit
Es handelt sich um das Konzept für eine Wandarbeit; bei Ausführung wird der Schriftzug in Farbigkeit und Maßen der jeweiligen Architektur angepasst: „Size determined by the needs of the exhibition (as large or as small as desired)“ steht auf dem Blatt. Und so wurde das Statement damals gut leserlich in rot ausgefüllten, blau umrandeten Lettern direkt auf der weißen Wand ausgeführt. Nach dem Ende der Ausstellung entfernte die Galerie den Schriftzug. Schon seit den 1960er Jahren, während der Entgrenzung und Dematerialisierung der Künste, dem Aufkommen von Minimalismus, Konzeptkunst sowie Institutionskritik, ist Lawrence Weiner nicht mehr an tradierten Herstellungsverfahren, sondern vor allem an Sprache als Material interessiert. Statt Expression oder Subjektivität stehen die Reflexion von Kommunikation, Institutionen sowie die Partizipation des Publikums im Mittelpunkt – die Arbeit soll von Schildermaler*innen oder anderen, die mit Farbe umgehen können, umgesetzt werden.2 Dabei müssen seine Konzepte, wie es Weiner 1968 in einem Text namens Absichtserklärung betont, nicht realisiert werden. Denn gemäß der Hoffnung auf eine Demokratisierung der Künste liegt „die Entscheidung über die Ausführung (...) beim Empfänger (...)“.3 Oder wie der Künstler Sol LeWitt 1967 den Neoplatonismus der Moderne revidierte: „Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht“.4 Auf diesem Weg versucht diese Kunst sich den herkömmlichen ökonomischen Strukturen zumindest ein Stück weit zu entziehen.
Doch welche Struktur wurde 1989 eigentlich thematisiert: Syntax oder Semantik der Schrift? Die Trikolore und ihre Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Solidarität? Oder sollten die Wände des White Cube von einem revolutionären Mob eingerissen werden? Bei den seit den 1960er Jahren entstehenden Sentences Lawrence Weiners handelt es sich um poetische wie offene sprachliche Gebilde. Die Bedeutung dieser Arbeiten ist flexibel, die einzelnen Elemente sind ein Stück weit entkoppelt und es entsteht der Eindruck, dass der Satz, der aus Worten und idiomatischen Wendungen zusammengefügt wird, eigentlich nur existiert, weil die Teile so zusammengefügt werden können.5 Weiners poetische Sprache durchkreuzt Vorstellungen von Eindeutigkeit, Transparenz oder Rationalität, sie formuliert keine Befehle. So entstehen, wie es die Übersetzerin Kate Vanovitch beschreibt, aus disparaten Teilen Satzmöglichkeiten – wie eine Installation aus diversen Materialien.6 Die Sentences, also auch Cat. #517, sollen zweisprachig ausgeführt werden, auf Englisch sowie in der Landessprache des Ausstellungsortes; die Übersetzung multipliziert die Deutungen zusätzlich. Enough push & pull to make a structure go to pieces verweist somit nicht auf einen konkreten Event oder ruft zu einer zielgerichteten Aktion auf, sondern regt zur Diskussion an. Der konzeptuelle Teil der Arbeit verweist durch seine ehemalige Ausstellung in der XPO Galerie sowie die Farbigkeit zwar auf die Trikolore und ihre Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Solidarität – thematisiert jedoch ausdrücklich auch die Wiedervereinigung Deutschlands, die Wende mit ihrer friedlichen Revolution von 1989, also den Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie. Es formiert sich in Cat. #517 ganz allgemein etwas, das vorgefundene Strukturen durch Push & pull, durch Stoss & Zug, in Bewegung versetzen möchte. So könnten 2019 aktuelle Debatten, etwa der gegenwärtige Rechtsradikalismus, der Brexit oder ökologische Missstände assoziiert werden. All diese individuellen Assoziationen bestehen gleichzeitig und durchkreuzen sich. Zudem, und das ist die zentrale Qualität von Cat. #517, tauchen sofort Zweifel auf: Existieren heute überhaupt noch feste Strukturen, an denen gezerrt und gezogen werden kann? Ist dies nicht eine veraltete Vorstellung, die eigentlich nur deutlich macht, dass nach dem Ende des Kalten Krieges lediglich das globale Kapital radikal war, indem es traditionelle Strukturen durch flexiblere Gebilde ersetzte?7
Lawrence Weiner ist schon aufgrund seiner langjährigen Freundschaft mit der 2009 verstorbenen Künstlerin Hanne Darboven der Hansestadt Hamburg verbunden. Zudem finden sich im Stadtraum gleich mehrere Werke, etwa Ein bißchen Zeit + ganz viel Ebbe – Time + Tide (1989) auf dem Vorplatz der Deichtorhallen oder An den See, Auf dem See, Von dem See, An dem See, Grenzend an den See (1970 / 2004) an der Fassade des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs am Neuen Jungfernstieg. Auch Cat. #517 wurde in der Vergangenheit von ihrem Besitzer Michael Liebelt der Kulturbehörde zur Ausführung auf einer Wandfläche in Nachbarschaft zu einer Agentur für Arbeit angeboten, dem damaligen Arbeitsamt Besenbinderhof. Doch lehnte diese staatliche Einrichtung ab.8 Lange wurde nach einem geeigneten Ort gesucht; in der Zwischenzeit fand sich die konzeptuelle Zeichnung während der globalen Finanzkrise in der Ausstellung A World of Wild Doubt inmitten von Kunstwerken und Dokumenten zu Verschwörungstheorien, Paranoia, Angst sowie Reflexionen über Anarchie und Anarchismus im Hamburger Kunstverein wieder.9 2019 nun wird Cat. #517 endlich im Flügelbau West (ESA West) der Universität Hamburg mit glänzender Wandfarbe des Grüntons Pantone 354 C sowie schwarzer Umrandung in Pantone Process Black C realisiert (Abb. 2).10
Lawrence Weiner: Cat. #517, Enough push & pull to make a structure go to pieces, 1985 / 2019, Flügelbau West, Universität Hamburg, Leihgabe der Sammlung Liebelt © Lawrence Weiner, Foto: Olaf Pascheit
Seit 2018 geplant verweist diese Installation gleich auf zwei Jubiläen: Fünfzig Jahre 1968 – Weiner ist ein bekennender Pazifist, der sich im Civil Rights Movement engagiert hatte – sowie hundert Jahre Universität Hamburg. Ende der 1960er Jahre wurde mit Minimal und Conceptual Art euphorisch ein Zeitalter beschworen, das sich zumindest für einen Teil des Kunstbetriebs ausschließlich in den Sphären eines als immateriell definierten Geistes abspielen sollte. Zahlreiche Protagonist*innen stellten dabei die Welt der Ideen, Entwürfe und Pläne den Dingen und Materialien des Alltags gegenüber. Aber es sind in der damaligen Szene zahlreiche Wiedersprüche zu verzeichnen. Der Künstler Robert Smithson etwa skizzierte 1967 die neuen Möglichkeiten für die Kunst in seiner Ankündigung für die von seinem Kollegen Mel Bochner kuratierte Ausstellung der New Yorker Dwan Gallery durch eine Inversion der zu erwartenden Begriffe. Er beschrieb die Rezeptionshaltung für die dort ausgestellte Kunst als „die Sprache anschauen und / oder die Dinge lesen.“11 Wie es Schriften etwa von Art and Language zeigen, welche die Kunstkritikerin, Kunsthistorikerin und Kuratorin Lucy Lippard in ihrem Buch Six Years: The Dematerialization of the Art Object von 1973 dokumentiert, konnte die Materialität der Drucksachen, ihre taktile Erfahrung, letztendlich nicht ignoriert werden.12 So betont Smithson 1972 in einem Nachtrag: „Sprache besteht meiner Auffassung nach nicht aus Ideen, sondern aus Material – nämlich aus ,printed matter‘.“13 Und so sind die von Lawrence Weiner eingesetzten industriellen Wandfarben und vor allem das als Träger dienende Gebäude Flügelbau West die entscheidenden Bestandteile von Enough push & pull to make a structure go to pieces.
Die Arbeit verweist also nicht nur auf weitere Werke Weiners und den lokalen urbanen Stadtkontext mit seinen diversen Öffentlichkeiten, sondern auch auf die mit dem Flügelbau West verbundenen globalen Strukturen und Aktivitäten der Lehre, Forschung, Bildung und Verwaltung: Etwa Partnerinstitutionen der Universität Hamburg, entsprechende Ökonomien, Diskurse, die sich dort aufhaltenden Personen, Professor*innen, Studierende, Mitarbeiter*innen der Bibliothek, das Reinigungspersonal, Obdachlose oder Neugierige. Und zu dem Gebäude aus Sandstein, Granit, Terrazzo, Stahl und Glas gehört seine Geschichte. In den 1990er Jahren herrschte große Raumnot. Das Kunstgeschichtliche Seminar befand sich in einem damals desolaten Altbau in der Moorweidenstrasse 18 und die Rechtswissenschaft II hauste in 1970 als Provisorium errichteten Barracken. Beide Fächer fanden in dem 1996–1998 errichteten Flügelbau West eine neue Bleibe; gemeinsam mit dem Flügelbau Ost handelt es sich um eine Schenkung der Dr. Helmut und Hannelore Greve Stiftung für Wissenschaften und Kultur anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Universität.14 Im Flügelbau West befinden sich heute neben dem Kunstgeschichtlichen Seminar die Institute für Archäologie, Ethnologie, Volkskunde / Kulturanthropologie, ein Raum für die entsprechenden Fachschaftsräte, ein studentischer „Freiraum“,15 das Café dell' Arte sowie die Fachbereichsbibliothek Kulturwissenschaften. Es kam im Kontext der Schenkung zu Protesten, denn dem Bau war kein Architekten-Wettbewerb vorausgegangen, die Ausführung übernahm die Firma des Stifters. Zudem wurden die künftigen Nutzer*innen nicht in die Planung mit einbezogen, ein erster Entwurf ließ gar eine Bibliothek vermissen – und es existierte keine in solchen Fällen übliche Baukunst.16 Der Künstler Franz Erhard Walther gestaltete lediglich eine Plakette, welche an Stifter und Stiftungszweck erinnert. Tatsächlich lässt diese Architektur trotz der luftig wirkenden Plaza in Verbindung mit den sechs Schwarzen Olivenbäumen (Bucida buceras L.), die Pflanze findet sich bevorzugt in Hotellobbys oder Einkaufszentren,17 eine stickige Atmosphäre entstehen, unter denen all diejenigen zu leiden haben, in der Regel Sekretariate und Mittelbau, deren Bürofenster in den Innenhof zeigen. Das gläserne Forum mit seiner Freitreppe ist ein öffentlicher Ort. Und diese Plaza richtet sich nicht alleine an die vertretenen Fächer, denn hier überkreuzen sich diverse Interessen. Flügelbau West besitzt weder Keller noch Boden, Räume, in denen sich laut dem Philosophen Gaston Bachelard Geschichte und Geschichten ansammeln, Erzählungen, die Emotionen, Tagträume oder Wünsche produzieren können.18 Das von Lawrence Weiner mit dem Statement Enough push & pull to make a structure go to pieces markierte Gebäude, diese Räume mit ihren glattpolierten Oberflächen, sind in der Tat nicht ideal für universitäres Leben. Es gibt keine Ecken und Winkel, in denen sich entsprechende soziale Strukturen festsetzen können; aufgrund der angestrebten „Transparenz“ des Gebäudes lesen Wissenshungrige Bücher gewissermaßen in einem Schaufenster sitzend. Der ehemalige Stiftungszweck, wie er in einem internen Papier von 1995 formuliert wird, sah vor, dass in den Flügelbauten und vor allem in den Foren „studentische Aktivitäten (Kultur und Theater, Café, Infostände, AStA usw.)“ stattfinden sollten.19 Doch schon zwei Jahre nach der Einweihung beschwerten sich Studierende wie Mitarbeiter*innen über Lärm, so fand etwa die Verleihung eines Musik-Nachwuchspreises durch die Boulevardzeitschrift Bunte im Flügelbau West statt.20 Noch vor kurzem überraschten im Foyer Stände diverser kommerzieller Veranstaltungen, die mit den im Gebäude vertretenen Fächer wenig oder gar nichts zu tun haben, die regulären Benutzer*innen. Momentan sind diese Aktivitäten aufgrund von Brandschutzbestimmungen eingestellt worden; die zukünftige Nutzung ist ungewiss.
Protestaktion von Studierenden anlässlich der Vermietung von ESA West, Mai 2019
Was können wir also von Lawrence Weiner lernen? In den Geisteswissenschaften geht es vor allem darum, durch Vorlesungen, Seminare, Exkursionen, Texte, Bücher oder Ausstellungen an den Diskussionen der Gesellschaft teilzuhaben und Strukturen auf diesem Weg diskursiv, kuratorisch oder aktivistisch in Bewegung zu versetzen: Die Sprache, ihre vielfältigen Funktionen und Möglichkeiten, stellt für die Praxis vieler Wissenschaftler*innen dabei das zentrale Material dar. Enough push & pull to make a structure go to pieces regt dabei zu einer anhaltenden Diskussion um den Status der Dinge an, welche die in Flügelbau West angesiedelten Fächer erforschen und in Forschung und Lehre vertreten. Aber die Zweifel bleiben bestehen. Auch wenn Lawrence Weiner keine Befehle formuliert – werden in der Conceptual Art nicht trotzdem Anweisungen ausgeführt, handelt es sich gewissermaßen um eine bürokratische Kunst?21 Welches Element wird die Oberhand gewinnen? Auf jeden Fall ist eine Universität genau der richtige Ort, um über diese Fragen nachzudenken und zu diskutieren. Hamburg befindet sich dabei in guter Gesellschaft, so sind Arbeiten von Lawrence Weiner bereits an der Ruhr-Universität Bochum, der University of California, San Francisco, oder der Universiteit Gent realisiert worden.
1: Ausst.-Kat. Hier wird getanzt (...), XPO Galerie, Hamburg 1989; Alyssa Goldstein Sepinwall: The Abbé Grégoire and the French Revolution: The Making of Modern Universalism, Berkeley 2005.
2: Siehe Alexander Alberro (Hg.): Lawrence Weiner, London 1998.
3: Lawrence Weiner: „Absichtserklärung (Declaration of Intent)“ (1968), in: Ibid.: Gefragt und gesagt. Schriften & Interviews von Lawrence Weiner 1968–2003, hg. von Gerti Fietzek / Gregor Stemmrich, Ostfildern-Ruit 2004, 22.
4: Sol LeWitt: „Paragraphen über konzeptuelle Kunst“ (1967), in: Gerd de Vries (Hg.): Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln 1974, 177–185, hier 177.
5: E-mail von Kate Vanovitch an die Autorin, 28. Juni 2018.
6: E-mail von Kate Vanovitch an die Autorin, 13. Juli 2018.
7: Gilles Deleuze: „Postscript on the Societies of Control“, in: October, 59 (Winter 1992), 3–7.
8: Gespräch mit Michael Liebelt am 12. November 2017.
9: Ausst.-Kat. A World of Wild Doubt, hg. von Petra Lange-Berndt / Dietmar Rübel / Dorothee Böhm, Hamburger Kunstverein, Berlin / New York 2013.
10: Der Künstler schlug diese Farbauswahl sowie die Verteilung der Schrift auf den Balkonen vor.
11: Robert Smithson: „Die Sprache anschauen und/oder die Dinge lesen“ (1967), in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Eva Schmidt / Kai Vöckler, Köln / Wien 2000, 76.
12: Lucy Lippard: Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972 … (1973), Berkeley / Los Angeles 1997, 43–44; 166–167.
13: Smithson 1967 (wie Anm. 10), 76.
14: Siehe Jürgen Lüthje (Hg.): Universität im Herzen der Stadt. Eine Festschrift für Dr. Hannelore und Prof. Dr. Helmut Greve, Hamburg 2002.
15: Siehe http://www.asta-uhh.de/fileadmin/user_upload/Veröffentlichungen/Reader/130125_Reader_Freiraum_an_der_Uni_01.pdf, 12, [24. 11. 2018].
16: Manfred Sack: „Verzicht auf Baukunst“, in: Die Zeit, 40 (29. September 1995), 60.
17: Ich danke Angela Niebel-Lohmann und Jens G. Rohwer (Institut für Pflanzenwissenschaften und Mikrobiologie, Universität Hamburg) für diese Hinweise sowie Ute Schmiedel für die Vermittlung.
18: Gaston Bachelard: The Poetics of Space (1958), Boston, Mass. 1994, 8.
19: Dr. Helmut und Hannelore Greve: „Die Flügelbauten der Universität Hamburg“ (September 1995), Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, Universität Hamburg. o. S.
20: Siehe Christina Hebel: „Viel Lärm um den Lärm im neuen Flügelbau der Uni“, in: Hamburger Morgenpost(8. März 2000), 16.
21: Benjamin H. D. Buchloh: „From the Aesthetics of Administration to Institutional Critique“, in: October 55 (Winter 1990), 105–143.